Hans Schüle - Fraktale

Eröffnung, Donaueschingen, Galerie im Turm, 4. Oktober 2015

Das Fremde im Vertrauten - das Vertraute im Fremden

„Fraktale" nennt Hans Schüle die Werkreihe seiner jüngsten Arbeiten. Wie verschränkte, mehrdimensionale Rahmen kragen sie wandbezogen in den Raum herein oder balan-cieren wie aufgefächert im labilen Gleichgewicht auf Sockeln. Begleitet werden sie von Grafikreihen, die unter den Titeln „Transfer" und „Diaries" auf Übertragungen verweisen beziehungsweise einen Einblick in persönliche Notate versprechen. Ihnen entsprechen weitere plastische Werke aus der früheren Reihe der „Hybride" in der Formensprache.
Hans Schüles Plastiken und grafische Arbeiten bewegen sich auf der Grenze zwischen Abstraktion, Figuration und reiner Form. Diese Formen sind selten geschlossen und lassen häufig berechtigte Zweifel an ihrer Materialität, Herstellungsweise und ihrem Raumbezug aufkommen. Sie entziehen sich einer eindeutigen Zuschreibung, obwohl alles klar und transparent vor den Augen des Betrachters ausgebreitet liegt. Es hat den An-schein, als gehorchten die Werke naturwissenschaftlichen, mathematischen Regeln und als seien die grafischen Arbeiten zudem in fotografischen Verfahren auf das Papier gebannt.
Subversiv argumentiert Hans Schüle gegen voreilige Seherfahrungen und die damit einhergehenden Erwartungen. Seine Arbeiten sind auf unterschiedlichen Ebenen vieldeutig und widerborstig, denn je intensiver man sich ihnen visuell und analytisch nähert, desto stärker schwindet der Eindruck des Bekannten, desto mehr entziehen sie sich in einer Art Vexierspiel.
Was also ist hier los? Locken uns die Titel „Transfer", „Diaries", „Hybride", „Fraktale" im Verbund mit dem Ausstellungsaufbau auf falsche Fährten?
Im Folgendenen soll eine Annäherung unter den Gesichtspunkten Raum, Körper und Technik erfolgen. Dabei interessieren der Raum in Bezug auf Wahrnehmung, der Körper korrelierend mit Repräsentation und schließlich die Technik hinsichtlich der Methode.

 

Zum Raum

Der Raum, den die Plastik einnimmt – wie bei „Hybride # 28", 2011 (Stahl/Pulverlack) oder „Fraktal # 14", 2012 (Stahl, lackiert) –, ist nicht statisch. Er durchdringt den Ausstellungs-raum und umschließt ihn im eigenen Binnenraum. Mit Termini aus der Biologie bezie-hungsweise der Geometrie fasst Hans Schüle seine offenen Stahlplastiken begrifflich. Was sich kompliziert anhört, eröffnet künstlerische Möglichkeiten, die Bezugssysteme von Natur und Technik, Körper und Modell, Proportion und Repräsentation neu zu befragen und zu vernetzen. Es lenkt zugleich die Assoziationen beim Betrachten auf konrete Be-züge. Den Exponaten entspricht in idealer Weise übrigens dieser offene Ausstellungs-raum, der sich als Teil der Stadtbücherei über drei Etagen erstreckt. Da die Ebenen nicht klar von einander abgegrenzt sind, ergeben sich ungewöhnliche Sichtachsen mit variablen Querbezügen.
In der aktuellen Auseinandersetzung um Möglichkeiten und Aufgaben von Plastik spielt ‚Raum' eine entscheidende Rolle. Dabei avancierte Raum als bewusst reflektierte Be-dingung von Skulptur erst vor einem guten halben Jahrhundert zu einer relevanten Größe. So stellte der Kubist Henri Laurens 1951 klar, dass „die Plastik vor allem Besitzergreifung des Raumes, eines durch Formen begrenzten Raumes" sei. Damit ging ein neues Raum-gefühl der Entgrenzung einher. Die Frage, wo die Skulptur endet, wo der Raum beginnt, dass es sich lohnt, von der messbaren zugunsten einer imaginierten Realität abzurücken, unterstrich der Bildhauer Norbert Kricke 1961.
Mit dem heute zu beobachtenden Entschwinden des Raums im Virtuellen gewinnt jene künstlerische Fragestellung der Moderne eine neue Qualität. Es ist längst nicht mehr selbstverständlich, materielle Objekte im realen Raum wahrnehmen zu können. Dinge und Raum bedürfen des sensibel erkundenden und reagierenden Betrachers. So werden die Rezipienten von Hans Schüle mit seinen Arbeiten zur intensiven Inspektion gelockt. Die netzartige Auflösung der Außenhaut seiner Plastiken oder die geschichtete Verdichtung von Flächen weisen auf die ambivalenten Bezüge zwischen dem umgebenden, durch-dringenden Raum und dem ausgreifenden Volumen der Plastiken. In einer von medialen und visuellen Reizen geprägten Zeit gerät eine solche konzentrierte und kompetente Beobachtungsgabe paradoxerweise ins Abseits. Zu trivial scheint die Aufgabe „Mit den Augen zu sehen, was vor den Augen dir lieget". (Goethe, Xenien aus dem Nachlass, 45)


Zum Körper

Die scharfkantigen „Fraktale", aus aufgebrochenen, geschichteten Flächen oder in sich verkanteten, verschlungenen Streifen geformt, erweitern und variieren konsequent das Verhältnis von Volumen und Silhouette zum Raum. Die Stahlflächen von „Fraktal # 14" sind so stark gebrochen und verkantet, dass tiefe, verschattete ‚Falten' entstehen, ihre Ober- und Unterseite in Teilen parallel sichtbar werden und die erhabenen Grate der ‚Knickstellen' in diverse diagonale Richtungen verlaufen. In heftig ausgreifender Kontur besetzt diese Plastik halb schwebend, halb sinkend den Raum. Ihre bewegte Oberfläche und Form bewirkt Ungewissheit, was ist innen, was ist außen, wo fängt der plastische Körper an. Beständig überlagern sich Öffnungen und Verdichtungen, werden widersprüch-liche Botschaften geliefert. Dieses Prinzip wird auch bei den Wandreliefs angewendet, nur scheint hier die weiße Fläche so kunstvoll zerlegt, dass sie als in sich geschlossenes breites Band wirkt, das in Vor- und Rückschwüngen dem Raum einen dreidimensionalen Rahmen verleiht. Es sind, wie der Titel verspricht, „komplexe geometrische Gebilde" (vgl. Duden, Stichwort: Fraktal), bei denen ein zusätzlicher Reiz durch die Ungewissheit entsteht, ob ihre Form nicht doch auf mathematischen Regeln basiert.
Die „Hybride" hingegen scheinen eher zufällig in additiver Reihung kreisrunder Formen zu biomorphen Körpern gefügt zu sein, die im sparsamen Materialeinsatz dennoch fast körperlos wirken. Die Leerstelle wird zur wesentlichen Komponente, nicht das Material, sondern sein Fehlen macht das Gefüge von Körpervolumen, Innen- und Außenraum, als eine Art Membran wahrnehmbar. Dabei wird deutlich, dass die Arbeiten, ob in annähernd kubistischer oder minimalistischer Formensprache auf sich selbst zurückverweisen. Sie sind weder Darstellungen noch Repräsentationen. Mögen sie an amöbenhafte Organis-men, an technische, stoffliche Prototypen erinnern, veranschaulichen sie jedoch auf man-nigfache Weise immaterielle Qualitäten: nämlich wie reale Statik visuell in Dynamik über-führt wird, wie labil Wahrnehmung ist, wie Außen- und Innenraum in eins fallen können. Aus dem Zusammenhang genommen und aufgeschnitten verlieren die ehemaligen Rohre selbst die Anmutung ihrer früheren Funktion, das einzige, was durch die Ringe nun fließen kann, sind Raum und Luft und Blick. Im Wortsinn wurden sie zu hybriden, das heißt sowohl ‚vermessenen' als auch‚ gemischten' Körpern.

Zur Technik

Täuschung und Verunkärung erfolgen nicht nur auf der formalen künstlerischen Ebene, sondern ebenfalls in den technischen Verfahren, die Hans Schüle mit kunstvoller Akribie verwendet. Die perfekten kreisrunden Elemente, aus denen die „Hybride" jeweils an ihren Schmallseiten zusammengesetzt sind, verbergen durch die Be- und Verarbeitungsweise ihre ursprüngliche Funktion und Materialität aus dem Alltag von Installateuren. Gleich-mäßig zersägt und mit Pulverlack beschichtet verliert der Stahl seine kalten, kantigen Eigenschaften. Weich und bronzefarben umschließt die Pulverbeschichtung jeden Ring gleichmäßig, während das Brünier-Verfahren, einst zur Metallkonservierung bei Gewehren erdacht, zu einer tiefschwarzen, klarkonturierten Wirkung führt. Die Metallverarbeitungs-techniken treffen auf ein Formenvokabular aus dem Baukasten der Natur. Schweißnähte verbinden die Stahlflächen bei den „Fraktalen" im Verborgenen.
Der aufmerksame Umgang mit unterschiedlichen technischen Möglichkeiten gründet wohl in Hans Schüles künstlerischem Werdegang, der bei Grafik und Malerei begann. Es sind die künstlerischen Verfahren, die auf Zweidimensionalität und imaginärer Räumlichkeit beruhen, während mit der Hinwendung zum Scherenschnitt eine andere Körperhaftigkeit durch Weglassen entwickelt werden kann. Es handelt sich quasi um ein „skulpturales" Verfahren.
Die Werkgruppe „Diaries", scheinbar fotografische Abbildungen von mikroskopisch ver-größerten Mikroorganismen, von wunderbar plastischen Körpern und Symmetrien, variiert die grafischen Techniken und begleitet seit 15 Jahren den künstlerischen Arbeitsprozess. Die Blätter sind Skizzenbuch, Reflexionsmedium für neue Ideen, kritische Bestandsauf-nahme und variabele Loseblattsammlung.
Hier lohnt der genaue Blick, der zunächst darüber aufklärt, dass es sich nicht um Fotos, sondern um ein grafisch-malerisches Verfahren handelt. Mit Hilfe von Schablonen und einer Spritztechnik entstehen tiefe Illusionsräume. Silberfarbenes Lackpapier wird in ver-schiedenen Arbeitsschritten abgedeckt und mit Lackfarbe besprüht, so dass schließlich unter den verdeckten Teilen das Papier als Bildträger und Abbildung sichtbar ist. Die lang erprobte Technik des Scherenschnitts kommt Hans Schüle hier zugute. Die Umkehr von Positiv- und Negativform, von Bildträger und Bildgegenstand sind gute Übungen, um Raum und Körperbezüge unter anderen Vorzeichen zu sehen. Und wie Schautafeln aus dem Biologiesaal bieten 17 Darstellungen der „Diaries" Anschauungs- und Klassifizierungsmaterial.
Hans Schüle beherrscht die Kunst der Vieldeutigkeit und Entgrenzung, indem er mit leichter Hand die Vorzüge unterschiedlicher Referenzsysteme und Wahrnehmungsmuster kombiniert. „Transfer" in bestem Sinne. Er führt damit in Welten des vertrauten Fremden und des fremden Vertrauten. Was könnte aktueller sein?

Ursula Köhler